Am Anfang war es kaum zu glauben.
Es war so ... profan gewesen. Kein Anzeichen vorher, die Welt hörte nicht auf sich zu drehen, keine bemerkenswerten letzten Worte, nur ein Treffen und Cassiel war nicht mehr auf den Füßen.
Es dauerte, bis sie nach ihm sehen konnte, selbst Esra war nicht direkt bei ihm gewesen.
Der Kampf hatte sie getrennt.
Und dann der Tod.

Die Kämpfe waren ein Anzeichen ihres Erfolges. Sie hatten es geschafft, soviele Menschen hinter sich zu bringen, zumindest für ihre Sachen zu interessieren, dass sie hatten beginnen können, mit den Maschinen wirklich Kontakt aufzunehmen. Sie hatte den Virus der Individualität ausgesetzt und wurden langsam zu einer wirklichen Bedrohung, der die Maschinen massiv versuchten Herr zu werden.
Nun, wie dem auch sei, die Kämpfe wurden mehr - und gerade als sie so etwas wie Routine wurden, verloren sie Cassiel.

Sie konnten seinen Körper bergen, aber es gab nichts mehr, was sie tun konnten. Die ganze Crew stand um die Leiche herum, sie starrten den blutüberströmten Körper an - und dann auf Esra, der selbst leichenblass war.

Der Junge, der nicht mehr ganz so jung war, stand reglos, während Tamara, ihr neuestes Crewmitgied mit medizinischer Erfahrung, den Kapitän untersuchte - bis die Asiatin den Kopf schüttelte.

Dann drehte er sich wortlos um - und verschwand in Cassiels Zimmer.

Es dauerte Stunden, die ganze Nacht, ohne dass sie ein Lebenszeichen ihre Kommunikationsoffiziers bekamen. Die Tür blieb zu. Keine Reaktion.
Einmal klang es gegen Morgen so, als zerschmettere er etwas gegen die Tür, dann klang es, als schmeiße er sich mit dem ganzen Körper gegen den Stahl - aber nichts sonst.

Die Crew hockte um den Tisch, niemand sprach, die Stimmung könnte schlechter nicht sein.
Ab und an wischte sich jemand über die Augen. Jetzt fehlten sie beide. Der ruhige Kapitän und sein Pilz, der mit Scherzen nicht geizte.
Die Stille war drückend.
Das Essen stand unberührt vor ihnen, während sie warteten.
Schließlich, fast unbemerkt, öffnete sich die Tür und Esra kam herein. ES war kein dramatischer Auftritt. Kein expressives schwarzes Outfit, kein kahlgeschorener Schädel - aber dennoch sah er verändert aus. Die Augen waren rotumrandet und lagen tief im Schatten, d ie Lippen waren fast weiß und das Gesicht genauso. Es animierte nichts dazu, ihn anzusprechen, als er sich schließlich auf einen der freien Plätze hockte.

Die Blicke der anderen gingen zwischen den Tellern und Esra hin- und her. Der junge Mann griff sich seinen Löffel und begann von dem Essen in sich hinein zu schaffen. Nicht mal die jadegrüne Farbe konnte ihn aufmuntern.

"Wir könnten..."; begann Tamara, aber ein Blick von Esra ließ sie verstummen.
"Wir müssen sehen, dass wir den Zeitplan einhalten und hier wegkommen. Wir sind immer noch ziemlich nahe am Knoten und die wahrscheinlichkeit, dass wir hier von irgendwelchen Wächtern zufällig entdeckt werden, ist ziemlich hoch. Wir machen uns weiter auf den Weg nach Paris für die nötigen Wartungen."

Esra fragte nicht, er ließ nichts abstimmen. Er teilte den anderen seine Wünsche und Pläne mit und wenn es keinen Widerstand gab, dann sorgte er dafür, dass die Dinge erledigt wurden. Er hatte sich nie nach einer Führungsrolle gedrängt, aber jetzt übernahm er sie effizient - wenn sie ihm nicht von jemand der anderen "streitig" gemacht wurde.
Und er war ohne Zweifel gut darin. Umsichtig, aufmerksam und mit seinem besonderen Gespür für die Matrix...

Rio war ihnen verschlossen. Aber in Paris versuchte Esra einen jungen Mann zu treffen, mit dem er in KOntakt stand: Marcus sollte den freigewordenen Posten eines Programmierers übernehmen, denn er wollte nicht, dass alles in dieser Richtung auf Mori lastete.

Was das andere anging, was Cassiel für Esra gewesen war außer sein Kapitän, suchte er keinen Ersatz. Er ging selbst in Paris nicht aus, obwohl Wochen vergangen waren.
Der einzige, der in den folgenden Monaten körperlichen Kontakt zu ihm hatte, war Lou.
Es begann wie zufällig, als Esra mit Dehnungsübungen versuchte seine Muskulatur zu lockern, als sie in Kiev Station in einem Hotel machten. Eigentlich hatte der Schöne Mann die Massage nur zum Scherz angeboten, aber sie wurde angenommen. Und Louzifer konnte sehr genau spüren, wie Esra sich unter den Berührungen auf seinem Bett erst verkrampfte und dann sehr entspannte. Die Nähe und Fürsorge taten dem immer noch ziemlich kleinen Pilz deutlich gut. Aber bevor Lou (der darin eigentlich schnell war) auch nur überlegen konnte, ob dies eine Gelegenheit war, hatte ESra sich unter die Decke gekuschelt und dem älteren Mann gedankt und eine gute Nacht gewünscht.

Dazu kam: Esra hatte keine freie Zeit. Er sorgte dafür: wenn es nichts gab, was von außen an ihn herangetragen wurde, dann trainierte er. In der Matrix, im Strom oder seine körperliche Fitness. Die anderen wussten, dass er krank war, aber sie konnten auch bemerken, dass er alles tat, um diese Schwäche einzudämmen, damit er die Aufgaben, die sich stellten, bewältigen zu können.

Körperlich veränderte ihn das ebenfalls: auch wenn er zierlich blieb, so wurde er doch kräftiger, unter der Haut lagen feste Mukeln, er war von sehniger Schnelligkeit. Und er wurde auch immer treffsicherer. Dabei schien ihn eine Aura der Unverwundbarkeit zu
umgeben, wenn sie gezwungen waren, das Schiff zu verlassen um Viren oder "Revolutionsprogramme" auszusetzen. Sah man von dem Splitter ab, der die hässliche Wunde auf seiner Stirn hinterließ, und dem Streifschuss, der eine lange Narbe auf seinem Rücken zur Folge hatte, blieb er unverletzt.

Vom Wesen her kam der charmante, jungenhafte Esra nie ganz zurück, aber es schien, als weigere er sich, bitter zu sein. Er hatte ein offene Ohr für alles, sorgte dafür, dass Wjala gut versorgt war, nachdem sie das Kind bekommen hatte (und er hielt sein Versprechen und stand ihr bei, als es soweit war). Väterlich benahm er sich dem Kind gegenüber nicht, mehr wie einer der lieben Onkel vom Schiff, wie die anderen auch. Allerdings versuchte er, soviel Geld wie er konnte, für Wjala zurückzulegen, von seinen Einkünften. Seine Einkünfte entsprachen genau dem, was die anderen auch an Salär bekamen. Da war er Gleicher unter Gleichen.

Nachdem die Beutezüge weniger und die Kampf- und Rebellionseinsätze mehr geworden waren, versiegte eine Einnahmequelle für die Gehenna. Allerdings hatte Cassiel gut vorgesorgt und viel auf die hohe Kante gelegt und ihre wachsende Popularität führte dazu, dass sie für ihre Objekte mehr bekamen und für ihre Bedürfnisse weniger bezahlen mussten. Am Ende zahlten sie weder für Lager noch für Hafenplätze noch Geld und Cassiel hatte es noch erlebt, dass man ihnen Geld hatte zukommen lassen zur "Unterstützung der Friedensmission".

Das war zum größten Teil Esras "Propaganda" (wie er es selbst scherzhaft nannte) zu verdanken. "Die Sache" wurde populärer und unter dem Namen "Gehenna-Kurs" bekannt. Einmal in Kapstadt hatte Esra ein Erlebnis, dass dem "traumatischen" Sitzenlasser in Paris genau entgegen gesetzt verlief: einige Mädchen versuchen sich an ihn heranzumachen, nachdem sie gehört hatten, dass er zur Crew des "Rebellenschiffes" gehörte.
Mit diesem Erfolg kam auch größerer bürokratischer Aufwand. Die Gefolgsleute mussten auf Linie gehalten und informiert werden. Anfragen mussten beantwortet werden.
Es zeigte sich, dass hier Esras wirkliches Talent lag.
Er konnte mit den Leuten umgehen, er konnte delegieren, er konnte schnell entscheiden und seine Entscheidungen auch "verkaufen" und durchsetzen. Er zog Sympathien auf sich - und das war etwas, was Cassiel nie gekonnt hätte, und er begeisterte die Leute, forderte von ihnen Unterstützung - und bekam sie. Jedenfalls eine Chance.

Und diese nutzen sie. Esra erarbeitete mit seinen Leuten, mit Hilfe von Chris und BQ, mit Hilfe aller, die ihm helfen wollten und konnten, logische Systeme aus, mit denen sie sogar Teile des Maschinenkonglomerats auf ihre Seite brachten. Die Welt veränderte sich.

Am längsten dauerte es in Rio, das sogar einen Angriff auf die Rebellenflotte wagte (einen erfolglosen, auch wenn er bittere Verluste brachte) - und im amerasischen Netzwerk.

Aber schließlich gab es Verhandlungen. Sie zogen sich hin, weil beide Seiten misstrauisch waren, weil beide Seiten unter einander uneinig waren. Es gab Rückschläge, Attentate, Verrat. Aber die Verhandlungsführer ließen nicht zu, dass es ein Misserfolg wurde.

Am Ende wollte Esra nur drei Dinge für sich: Er wollte, dass ein Programm Tims Körper übernahm, damit die Eltern wieder ein Kind hätten. Ein lernfähiges Programm, dass aus dem Komapatienten langsam wieder einen Menschen machte. Dieses Programm sollte mit den Strukturen gefüttert werden, die Tims Persönlichkeit ausmachten, die Cassiel vor langer Zeit extrahiert hatte.
Dann wollte er Tims Körper - um zu versuchen, ob man den jungen Mann wecken könnten. Er hoffte, dass die Hirnschädigung nicht auch außerhalb der Matrix körperlich wäre und wollte probieren, ob man die Anschlüsse auch "aktiv" nutzen könnte, ob es möglich wäre, den Prozess umzukehren, der dazu führte, dass eine Verletzung (oder der T od) in der Matrix den Körper in der NÄhrlösung beeinflusste.
Das dritte was er wollte, war etwas größer. Es war eine Fabrik in Silkon-Valley.
Diese Fabrik war der Grund gewesen, warum er nie Kämpfe und Zerstörungen im Osten Nordamerikas geführt hatte. Und er verließ den Verhandlungstisch nicht, bevor er nicht die Zusicherung hatte, die intakte, voll funktionsfähige, mit allen Datenbeständen ausgerüstete Anlage zu seiner Verfügung zu erhalten.

Und dann ... nahm der Pilz eine Auszeit, um nach Californien zu gehen

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