Thomas erwachte daheim in seinem Elternhaus - und nichts war mehr so,
wie er es in Erinnerung hatte. Sein Vater hatte ihn niemals nach Bensersiel
geschickt, und der Roman an dem er arbeitete, war kein brillantes Meisterwerk,
sondern recht hölzern. Eine Geschichte über einen Kapitän
zur See.
Die Eltern wie auch seine Geschwister waren befremdet über das plötzlich
seltsame Gebarens Toms und man ließ ihn ziehen, als er meinte, unbedingt
an die See fahren zu müssen.
Doch dort erwartete ihn eine schwere Enttäuschung - es gab kein
Herrenhaus der Hauens, es hatte dort nie eine solche Familie gegeben.
Auch das Gasthaus der Johansens existierte nicht, stattdessen fand er
eine Fischräucherei, selbst die kleine Kapelle hatte es in dieser
Form nie gegeben, die Dorfkirche sah gänzlich anders aus.
Völlig aufgelöst rannte der junge Mann durch das Dorf - und
kaum eine Stelle schien ihm vertraut, keinen der Menschen hatte er je
gesehen.
Mutter Brook erkannte ihren Jüngsten kaum wieder, als er verwirrt
und aufgeregt heimkam... und was immer er auch erlebt haben mochte, es
hatte Thomas nicht gutgetan. Lange Zeit lag er fiebrig darnieder, der
Arzt diagnostizierte ein schweres Nervenleiden und verordnete dem jungen
Mann eine Kur, doch es dauerte lang, bis er sie antreten konnte. Er weigerte
sich hartnäckig in die Berge zu fahren, so steckte man ihn in ein
Seebad.
Von Stund an weigerte sich Tom am Leben teilzunehmen, er verbrachte viel
Zeit damit, einfach nur aufs Meer hinauszustarren und ansonsten schwermütigen
Gedanken nachzuhängen, bis ihn Astrid, seine jüngere Schwester,
eines Tages im Kurort besuchte und und oft und lang mit ihm sprach. Sie
konnte als einzige zu ihm durchdringen, und ihre Ermahnung, dass er Gefahr
lief in eine Nervenheilanstalt zu kommen, zeigte endlich Wirkung. Er machte
Spaziergänge am Strand, nahm am Essen im Speisesaal teil und verweigerte
auch die Medizin nicht länger, doch wie es im Innern aussah, wurde
nicht klar, der junge Mann ließ nicht hinter die glatte Miene sehen.
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Der Aufenthalt gestaltete sich länger - und schließlich verblüffte
Thomas Brook mit einem Telegramm, indem er seine Rückkehr ankündigte,
seine Eltern mit direkt zwei spektakulären Nachrichten. Die eine,
dass er eine Braut mitbringen würde, die zweite, dass er wieder im
Kontor arbeiten würde und die Schreiberei an den Nagel hängen
wolle.
So waren die Eltern Brook freudig überrascht und für's erste
beruhigt und nahmen an, dass ihr Sohn genesen sei und endlich die Wende
eingetreten war.
Doch die Hoffnung trog, der lebendige Charmeur und Lebenskünstler
kehrte nicht wieder. Stattdessen kam ein ernster blasser Mann zurück,
mit einer sehr schüchternen und ruhigen jungen Dame am Arm.
Sie war sehr hübsch, doch das fiel erst auf dem zweiten Blick auf,
denn sie hielt sich sehr schüchtern im Hintergrund und sprach mit
leiser Stimme. Nichts, was der alte Thomas je wahrgenommen, geschweige
denn hätte ehelichen wollen. Doch wenn man sich erst einmal intensiver
mit ihr unterhalten hatte, wurde schnell klar, dass sie eine ganz reizende
und gebildete junge Dame war. Hübsch und dunkelhaarig wie Lissi,
ohne deren arrogante Dünkel zu haben und bodenständig wie Anneliese,
Thomas' zweite Schwägerin, nur weniger temperamentvoll. Klein und
zierlich war sie, und spielte Klavier, malte herrliche Aquarelle und war
wie Astrid eine höhere Tochter.
Sie war wegen ihrer zarten Gesundheit an der See gewesen und sich von
einer Lungenentzündung erholt. Durch ihre zurückhaltende und
unaufdringliche Art hatte sie - wenn schon nicht sein Herz, so doch Toms
Zuneigung gewinnen lassen.
Ihr war der stille blonde Mann aufgefallen, der anscheinend irgendeine
Verletzung verbarg... und wie Frauen nun einmal so sind, war sie davon
sehr angerührt und versuchte zu ergründen worum es sich bei
diesem Kummer handelte. Alma erfuhr es nicht, aber sie führten andere,
entspannte Gespräche, und nach langen Wochen machte ihr der zurückhaltende
Blonde zu ihrer großen Überraschung einen Antrag - den sie
annahm.
Tom war klargeworden, dass es niemals einen Maik gegeben hatte, dass
er aus wirren Träumen und Sehnsüchten zu ihm gekommen sein mußte..
und wenn er sein Kind Lars vermisste, gab es nur einen Weg ihn zu finden
- der Junge mußte erst gezeugt werden. Und wenn er auch nicht wirklich
eine Ehe suchte, so war der Wunsch nach Halt und Stabilität sehr
groß. Maik hatte ihm jeden Rückhalt gegeben, den er wohl offensichtlich
so benötigt hatte, dass er dafür eine ganze Traumwelt aufgebaut
hatte.
Auch der Beruf des Schriftstellers war wohl eine Chimäre, denn sein
Geschreibsel, das sah er selbst, war nicht gut genug, um sich je damit
ernähren zu können. Wollte er auf irgendeine Art seinen gesunden
Verstand zurückgewinnen, mußte eine komplette Umkehr erfolgen.
Und eine Familie konnte nicht von Hirngespinsten leben.
Seine unbeschwerte Art in jungen Jahren war wohl trügerisch gewesen,
er mußte langsam erwachsen werden.
So kam es, dass der junge Tom eine Braut heimführte, die zwar in
ihrer Bescheidenheit in dem Haus voller quirliger Menschen etwas unterging,
nichtsdestotrotz aber hoch geschätzt wurde. Wenn manche auch sagten,
dass der junge Mann, der -wie man wußte- lange krank gewesen war,
wohl eher eine Pflegerin geheiratet hatte und auf seinem eigenen Fest
ein bißchen wie ein trauriger Stockfisch gewirkt hätte. Untypisch
für einen Brook.
Die junge Ehe begann ruhig und unspektakulär, aber beide schienen
sich gut zu verstehen. Ihre stille Art gab ihm Trost, und seine immer
höfliche, aufmerksame Wesensart war wohl das, was Alma an einem Ehegatten
ausreichte. Er hatte keine Augen für andere Frauen - und auch für
sonst niemanden. So lange dies so blieb, würde sie beruhigt sein.
Thomas arbeitet lange und viel im Kontor, mehr als sein Bruder Heinrich.
Das er sich damit nur ablenkte, blieb sein eigenes Geheimnis.
An den Sonntagen ging er nach dem Kirchgang mit seiner hübschen
Frau promenieren, und führte sie auch mit den anderen Mitgliedern
seiner Familie zu gesellschaftlichen Ereignissen aus.
Noch immer sehr attraktiv und charmant war er nach seiner sogenannten
"Krankheit" von einem Geheimnis umgeben, und die jungen Frauen
munkelten, er sei schwer Liebeskrank gewesen, eine seiner vielen Eroberungen
habe den Spieß umgedreht und ihm das Herz und die Lebenslust geraubt.
Man beobachtete ihn genau, denn dass Alma nicht die Herzensdiebin gewesen
sein konnte, schien offensichtlich.
Man versuchte ihn zu umgarnen, doch er entzog sich dem immer wieder,
was ihn nur umso begehrlicher erscheinen ließ.
Aber die blauen Augen blitzten nicht mehr und es war prickelnder, wenn
auch die angebliche Beute williger war.
Des Nachts unternahm Thomas, der unter Schlaflosigkeit litt, manchmal
lange Ausflüge. Sein Bruder Richard, der dahinter eine Liebschaft
vermutete, war ihm eines Nachts aus Mutwillen und Neugierde gefolgt, und
hatte doch nur zu erzählen, dass sein plötzlich so langweilig
gewordener Bruder die ganze Nacht nur durch das stille Bremen gelaufen
sei. Nicht einmal ein Flittchen hätte er sich gesucht, keine Spelunken
aufgesucht. Enttäuschend.
Als Alma dann errötend ihrem jungen Gatten verkündete, dass
sie ein Kind unter dem Herzen trug, schien sich sein Zustand zu bessern,
und sie bekam eine leichte Ahnung davon, wie er wohl vor ihrer Heirat
gewesen sein mußte. Die nächtlichen Streifzüge hörten
für eine Weile auf, und er schien sich sehr auf den Nachwuchs zu
freuen. Die junge Frau wußte nicht, wie leidenschaftlich Liebesnächte
sein konnten, und dass der Taumel einen alles vergessen lassen konnte.
Tom war immer zärtlich und ein liebevoller Partner gewesen, man konnte
ihn nicht der Nachlässigkeit schuldig sprechen, sie war sehr zufrieden
mit ihrem Eheleben. Viele ihrer Freundinnen hatten es nicht so gut getroffen,
und sie beglückwünschte sich insgeheim zu ihrer guten Wahl.
Tom ließ sich niemals anmerken, dass ihm in manchen Nächten
danach war einfach zu schreien oder haltlos zu schluchzen, weil ihn die
Sehnsucht und Begierden manchmal schier auffraßen, und er nicht
wußte, wie er sie stillen sollte. Doch noch war er nicht soweit,
sie anderweitig zu suchen.
Er konzentrierte sich auf das Kind, in Innern hatte er genaue Vorstellungen
davon, wie es sein würde.
Groß war die Enttäuschung, als das Kind, zwar ein Junge, sich
als das Ebenbild Almas entpuppte. Ein ruhiges, stilles Kind, mit schwarzem
Haar und dunklen Augen. Thomas nannte ihn Uwe.
Doch wieder war er bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken
zu lassen. Die wenige freie Zeit, die ihm nach der Arbeit blieb, verbrachte
er mit dem Kind. Erzählte ihm viele Märchen und Geschichten
und tat alles, was er für gute Vaterpflichten hielt. Im Haus waren
viele Kinder, und Uwe hatte eine schöne Kindheit, er fühlte
sich stets geliebt und umsorgt. Doch er blieb schüchtern und ruhig,
sah aus dunklen, etwas ängstlichen Augen in die Welt.
Astrid heiratete einen reichen Bankier. Thomas verabscheute ihn vom ersten
Moment an.
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Nicht allzu lang darauf wurde Alma erneut schwanger, zur Freude der Eltern
Brook.
Thomas, mittlerweile einer der Stützpfeiler des Unternehmens Brook,
das beständig wuchs, umhegte sie wie ein Juwel. Alma blühte
unter der Mutterschaft auf. Das Kind war ein Mädchen, blond wie Weizen.
Alma wünschte sich den Namen Käthe, nach ihrer Mutter, und Thomas
willigte ein. Doch der zweite Name wurde Maike, und Thomas nannte sie
niemals bei ihrem eigentlichen Rufnamen. So nannte sie dann letztendlich
jeder. Maike wurde ein Wirbelwind wie ihre Tante, die mittlerweile ebenfalls
in anderen Umständen war.
Das blonde Ding war Toms Augenstern, und sie würde ihm dereinst
leicht um ihren Finger wickeln können. Thomas stellte sich vor, dass
dieses Kind, welches Maiks Namen trug, auch ihn entzückt hätte,
wäre er nur real gewesen. Doch der junge Mann gab sich Mühe,
den Älteren nicht zu vernachlässigen.
Seine nächtlichen Wanderungen begannen erneut, diesesmal mit anderen
Zielen.
Doch noch beschränkte er sich auf die Suche nach seinem blonden Seemann,
wissend um die Gefahren, die damit einhergingen. Einem folgte er nach
längerem Blickwechsel auf einen Kuss in einen dunklen Hauseingang,
doch er floh aufgewühlt, als dieser nach mehr verlangte.
Und wiederholte diese Versuch erst einmal nicht wieder.
Stattdessen flüchtete er sich in die Arbeit.
Astrid glaubte einen strengeren Zug um den Mund ihres hübschen Bruders
zu erkennen, der zuvor nicht da war... doch sie schwieg dazu.
Das Hochgefühl ihres Eheglücks verflog ebenfalls langsam
Im Sommer, ein halbes Jahr später, erlitt Brook sen. im Kontor einen
Infarkt, den er zum Glück überlebte. Doch er würde fortan
kürzer treten müssen und beschloß dem Bitten und Drängen
seiner Frau nachzugeben und die Führung des Geschäftes nun den
Händen seiner Söhne zu übergeben. Thomas übernahm
die Mehrarbeit ohne Murren, er war dankbar, dass sein Vater noch lebte,
denn er selbst hatte es anders in Erinnerung.
Seine Geschäfte dirigierten ihn zu einer Geschäftsreise nach
Hamburg, und dort packte ihn erneut die Unruhe, und er suchte ein zweites
Mal Kontakt zu Männern, die wie sein Maik zur See fuhren und Männer
begehrten. Denn die Nächte mit Alma waren nicht das, was wirklich
seinen Hunger stillte.
In einem Lokal schloss er Bekanntschaft mit einem hochgewachsenen Leutnant
zur See und willigte ein, mit ihm in ein Hinterzimmer zu gehen. Doch außer
Unbehagen wollte sich keine wirkliche Erregung einstellen. Er war erst
zur Hälfte entkleidet, als ihn ein immenser Widerwillen erfasste
und Thomas sich entschuldigte und ein zweites Mal fast panisch das Weite
suchte. Er ließ einen verärgerten Leutnant zurück, der
sich nun allein behelfen mußte.
Diesesmal kehrte der junge Mann abgestoßen und angeekelt von sich
selbst heim nach Bremen, eine Bootsfahrt im Hamburger Hafen hatte ihm
zudem gezeigt, dass er keinerlei Ahnung davon hatte, wie man ein Schiff
lenkte und was an Bord zu tun war. Frustriert beschloss Thomas, den Gedanken,
dass er einst ein anderes Leben geführt hatte, komplett aus seinem
Leben zu streichen und endlich loszulassen, diese Tür ein für
allemal hinter sich zuzuschlagen.
Als es im Hochsommer im Kontor vor Hitze nicht mehr auszuhalten war,
nahm selbst er sich den ersten verdienten Urlaub nach längerer Zeit
und fuhr mit Gattin nebst Kindern in ein vornehmes Seebad. Das konnten
sie sich mittlerweile leisten.
Und dort fand er wirklich Ruhe und Entspannung und gewann wieder Nähe
zu seiner Frau, mit der er lange nicht über wirklich intimes gesprochen
hatte. Der eventuelle aufdämmernde Krieg war schon ein Thema, aber
noch schien es nicht wirklich wahrscheinlich, und der junge Brook hütete
sich, etwas dazu zu sagen - sicherlich war das, was er im Hinterkopf hatte,
wieder eine seiner verrückten Ideen, aus Fieberschüben gesponnen.
Dies alles trug Früchte - bald darauf zeigte sich, dass Alma erneut
schwanger war. Tom sagte sich, dass dies wohl das letzte Mal sein sollte,
doch sie fand es herrlich, denn die junge Frau ging ganz in ihren Kindern
und den repräsentativen Aufgaben auf, die eine Frau von Stand vertrat.
Und all den Aufmerksamkeiten, die man damit auf sich lenkte, Alma stand
ganz im besorgten Mittelpunkt ihrer Schwägerinnen und Schwiegermutter
und genoß dies alles sehr...
Im Gegensatz zu Astrid. Sie hatte einem kleinen Jungen das Leben geschenkt
und war erst einmal nicht willens, so bald wieder schwanger zu werden,
denn ihr sauberer Gatte hatte die Chance genutzt, seine wohlgerundete
Gattin daheim zu lassen und sich selbst mit lockeren Weibern zu vergnügen.
Sie wußte es nicht mit Sicherheit, aber sie ahnte es längst.
Fritz betrog sie schon jetzt.
Thomas betrachtete dies stumm aus der Ferne. Und mochte Fritz noch weniger
als zuvor.
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Seine nächtlichen Ausflüge hatte er eingestellt, doch er ging
wieder aus. Nicht mit Alma, denn sie blieb lieber daheim und strickte
Babyschühchen, aber mit seinen Brüdern Richard und Heinrich
und deren lockeren Freunden.
Bei einer dieser Gelage, die er sich nur in Ausnahmefällen leistete,
traf er auf einen Mann, der ihn irgendwie an jemanden erinnerte... er
mochte anders aussehen, doch die Art schien ihm vertraut, und Tom mochte
den Mann sofort. Ein Lebemann und ein Bär von einem Kerl, der sich
als Alexander Veljanov vorstellte. Ein Kunstmaler der vermögenden
Sorte, dessen Bilder sehr angesehen waren.
Er war durchaus gebildet und unterschied sich doch sehr von den anderen,
die mit ihnen am Tisch saßen und die ihre Aufmerksamkeit längst
den Kokotten zugewandt hatten. Doch auch er soff wie ein Loch, schien
aber nüchtern zu bleiben. Im Gegensatz zu Thomas, der keine russische
Trinkerseele sein eigen nannte.
Und zu seiner eigenen Verblüffung willigte er ein, mit dem Mann
noch auf eine Flasche Champagner zu verschwinden. Niemand sah sie gehen,
und Richard nahm an, Tom hätte eine der Tänzerinnen mit in ein
Hotel genommen. Das würde den Sauertopf auf andere Gedanken bringen
- dachte er noch, bevor er selber ein Mädchen auf seinen Schoß
zog.
Thomas und Alexander - Sascha für meine Freunde - tranken den Champagner
und sprachen über die Heimat und die Sehnsucht des rotblonden Bären
nach dem schwarzen Meer. Und der angetrunkene Bremer sprach über
seine Sehnsucht nach einem kleinen Schiff, auf dem er in seinen Träumen
einst gesegelt wäre...
Und dieses Mal wehrte er sich nicht, als der Mann näher rückte
und mit fragendem Blick an Thomas' Hemdknöpfen spielte und ihm ganz
offensichtlich die Wahl ließ, diskret nein zu sagen, damit er sich
aus dem Spiel zurückzog. Stattdessen zog er ihn an sich und schloss
die Augen, und die Erinnerung an Teer und Tabak stieg in ihm auf, als
er Sascha küsste. Vorsichtig erst, doch dann mit Hunger und einer
Brunst, die beide verblüffte. Für den Russen war sofort klar,
dass Tom nicht das erste Mal in den Armen eines Mannes lag, er hätte
ihm sagen können, dass er keinem Hirngespinst aufgesessen war.
Ekel und Unwillen war vergessen, bei Sascha hatte Thomas nicht das Gefühl
der Angst und Panik, sondern fühlte sich aufgefangen und in Sicherheit.
Und der Ältere, der von dem kühlen Blonden nicht mehr als ein
paar Küsse und eventuell verstohlene Handgreiflichkeiten zu erhoffen
gewagt hatte, sah seinen Salon als Schauplatz der Zügellosigkeit,
die fast an seine eigene heranreichte. Der weiße Kater konnte wild
sein, und sie fielen schließlich nackt vom Sofa... der
russische Bär nahm den schlanken feingliedrigen jungen Mann fast
mit Gewalt auf dem kostbaren Teppich aus dem fernen Asien. Gut, dass Herr
Velanov sehr verschwiegenes Personal hatte, denn leise ging das Ganze
nicht vonstatten.
Und der junge Mann überraschte Alexander ein zweites Mal, als er
nach seinem Höhepunkt überraschend in Schluchzen ausbrach und
weinend in seinen Armen lag.
Lange streichelte er den so ernsten jungen Mann, für den er aus unerfindlichen
Gründen ein zärtliches Gefühl empfand und ermunterte ihn
erneut zum reden. Und so brach es dann aus Thomas heraus. Die Angst, verrückt
zu sein. Seine Sehnsucht nach Maik, den es nie gegeben hatte und seine
Gier nach Leidenschaft, der er nie hatte nachgeben können... und
das schlimmste - keinen Menschen zu haben, dem er sich anvertrauen konnte.
Und zu Alexanders dritten Überraschung an diesem Abend glaubte er
dem Jungen - und sagte dies auch. Was erneuten Tränenfluss auslöste.
Und der Bär mit der milden Seele beschloss den hübschen Burschen
zu behalten und zu adoptieren. Zudem waren Burschen von diesem delikaten
Aussehen unendlich teuer und meist nur durchtrieben und dabei oft noch
stumpf wie Vieh.... aber das sagte er nicht offen.
Tom schlief auf den vielen Kissen des roten Sofas ein, und Sascha malte
diesen schönen Burschen, der ihn so verrückt vor Lust gemacht
hatte. Eines von sehr sehr vielen, die er diesem folgen lassen wollte.
Und am Morgen verschwand Herr Brook ohne schlechtes Gewissen und ohne
Abscheu vor sich selbst oder dem russischen Bären.
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Dies blieb nicht der letzte Besuch bei Alexander, Tom kam seinen väterlichen
Freund und Gelegenheitsliebhaber gern besuchen, oft auch nur um zu reden,
und Onkel Sascha, wie ihn die Kinder bald nannten, war ein gern und oft
gesehener Gast im Hause Brook. Die Frauen liebten den charmanten Kerl,
die Männer mochten seine Art und seine Trinkfestigkeit, hörten
gerne seine gut erzählten Zoten... und die Kinder fanden, dass man
herrlich mit ihm spielen konnte. Sein dröhnendes Lachen erfüllte
oft das Domizil der Brooks, und die Kinder kreischten voller Begeisterung.
Viele seiner leuchtenden Bilder zierten das Hansehaus, und nur ein Teil
davon waren auch gekauft.
Er wurde Pate von Toms Jüngsten, einem blonden blauäugigen
Jungen, der vom stolzen Vater Lars genannt wurde.
Und Vater Brook fand, dass der ältere Freund einen sehr guten Einfluß
auf seinen Sohn ausübte, der wieder aus sich herausging und auch
endlich wieder lachen konnte, fast wie damals. Und Alma, die nach dem
dritten Kind ein bißchen runder um die Hüften wurde und ganz
froh war, dass Tom ihr aus Rücksicht seltener beiwohnte, war stolz
und glücklich über ihre kleine Familie und fand, sie seien rundum
glücklich.
Thomas war nicht in Alexander verliebt, aber er genoß den Sex mit
ihm - denn er brachte ihm die Erinnerungen an Maik zurück, die er
hatte verdrängen wollen. Und da Sascha ihn auch immer wieder nach
Begebenheiten fragte, wurde er für ihn wieder lebendig... und somit
auch er selbst.
Leidenschaftlich war der liebeswerte Saufkopf, und ein Poet, der den
Kater mit russischen Koseworten bedachte. Der junge Mann wußte,
dass es andere Liebhaber gab, denn er war nicht dumm, aber er erhob auch
keine Besitzansprüche.
Astrid wurde erneut schwanger und hatte immer öfter Streit mit ihrem
Gatten, doch alles hinter verschlossenen Türen.
Und es kam, wie Tom es längst erwartet hatte. Der Krieg brach aus.
Er selbst wurde nicht eingezogen, denn seine Vorgeschichte bescheinigte
ihm Labilität, zudem war er im Betrieb unentbehrlich, wie auch Heinrich.
Richard währenddessen meldete sich freiwillig. Der schöne Fritz
jedoch, der sich lieber gedrückt hätte, mußte gezwungenermaßen
an die Front.
Thomas holte Astrid und den Jungen in ihr Haus zurück, und fast waren
sie wieder so innig wie früher. Ihre Geschäfte gingen nach wie
vor gut, denn sie wurden gebraucht. Sascha wurde generös von seinem
jungen Liebhaber unterstützt, der ihm ohne Aufhebens zur Seite stand.
Im Krieg gab es keine Aufträge. Und noch immer gab es sehr leidenschaftliche
Momente zwischen ihnen.
An einem verregneten Tag im Herbst 1917 mußte Thomas wegen dringender
Geschäfte nach Lübbeck. Es war erheblich schwieriger geworden
noch zu reisen, zudem hatte er keine wirkliche Lust dazu, und er hoffte,
dass ihn seine Erinnerung nicht trog und der Krieg bald beendet sein würde.
Als er heimkam, erwarteten ihn schlimme Nachrichten.
Man hatte bei Alexander eingebrochen und er hatte, wie es schien, die
Diebe überrascht. Offensichtlich hatte sich der angetrunkene Mann
nicht wehren können und war erschlagen worden.
Doch Thomas ahnte, wie es wohl wirklich gewesen war. Sein Freund hatte
sich gelangweilt... und der weiße Kater war nicht da, um für
Kurzweil zu sorgen, und so hatte er sich schließlich einen Burschen
von der Straße geholt. Doch was sich in Bremens Straßen herumtrieb,
war nur noch der Bodensatz, und der Stricher hatte wohl angenommen,
es gäbe etwas zu holen. Und als seine Hoffnungen getrogen worden
waren, hatte er seiner Wut Luft gemacht. Alexander mußte überrascht
worden sein, ein ausgehungerter Straßenjunge hätte den starken
Kerl wohl sonst nicht überwältigen können... doch wie auch
immer es wohl gewesen war, sein Sascha war tot... und würde auch
seinen blonden Aljoscha aus Kiew mit dem herrlichen Lächeln und den
dunklen Juri mit dem herrrrrlichsten straffsten Hintern der Taiga nie
wiedersehen.
Tom war untröstlich und trauerte aufrichtig um seinen Freund, der
ihm auf seine Art das Leben wiedergeschenkt hatte.
Und er sollte der einzige Geliebte bleiben, den er nach Maik je hatte.
Die Bilder, das Erbe Alexanders, wurden im Haus auf dem Dachboden eingelagert
- und die vielen vielen Akte der vielen jungen Männer einschließlich
ihm selbst wurden von Thomas wohl verwahrt.
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Richard kam aus dem Krieg zurück, Fritz nicht. Was weder Thomas
noch Astrid von Herzen betrauerte. Der Bruder erfuhr nie, dass Fritz Astrid
geschlagen und auch andere Gewalt angetan hatte, zum Schluß hatte
sie ihn gehasst.
Nach einer angemessenen Trauerzeit heiratete sie einen Geschäftspartner
von Thomas, der zwar zehn Jahre älter als sie, dafür aber gutherzig
war und offensichtlich wirklich und ehrlich sehr in die noch immer schöne
Witwe verliebt. Und er wurde ihren beiden Söhnen ein guter Vater.
Der alte Brook starb in einer kalten Januarnacht 1920, doch er hatte
noch eine Menge Enkel erleben dürfen. Seine lebenslustige Gattin
heiratete nicht wieder und folgte ihm neun Jahre später nach einer
schweren Lungenentzündung. Sie erlebte nicht mehr mit, dass die Söhne
Brook den Sitz des Familiengeschäfts von Bremen nach New York verlegten.
Thomas bestand darauf, er fand, dass Deutschland bald unruhige Zeiten
bevorstanden. Und da er stets den richtigen Riecher gehabt hatte, vertrauten
sie ihm. Er hatte seine Kinder von Anfang an mehrsprachig erzogen, und
der tüchtige Uwe und Heinrichs Jüngster Johannes wollten eines
Tages das Geschäft übernehmen.
Uwe hatte stets den Rückhalt seines Vaters besessen und war zu einem
attraktiven cleveren Geschäftsmann aufgewachsen, das Unternehmen
Brook würde bei ihm ihn guten Händen sein. Er verliebte sich
eine schwerreiche jüdische Fabrikantentochter und legte den katholischen
Glauben ab, nachdem er entsetzt von den Gräueln des Naziregimes in
Deutschland hörte, und heiratete seine Sarah. Tom sah es mit Wohlgefallen.
Der junge Mann würde ein guter Vater sein, ebenso wie er selbst.
Maike hatte die Möglichkeit genutzt, dass es im Krieg an Männern
fehlte und Medizin studiert. Die hübsche Frau hatte Rückgrat
und einen festen Willen, und der Papa hatte ihr stets das Gefühl
gegeben, das sie alles erreichen konnte, wenn sie nur wollte. Sie hatte
viele Liebhaber, heiratete aber erst sehr spät. Brian war Professor
für Mathematik an einer Eliteuniversität und sehr stolz auf
seine Gattin, die Frau Doktor, und er fühlte sich keineswegs durch
ihre Intelligenz bedroht. Zudem war er von einer stillen, heiteren
Gelassenheit, die ihn zu einem sehr angenehmen Zeitgenossen machte. Maike
war sehr glücklich mit ihm, wenn ihnen auch Kinder verwehrt blieben.
Lars war ein sehr sensibles, liebevolles Kind, der sehr an Thomas hing,
von dem er stets als Benjamin verwöhnt worden war.
Thomas wollte ihn in keine Richtung zwingen und freie Hand bei allem
lassen, und wirklich war der hübsche Junge sehr vielseitig talentiert.
Er war ein brillanter Klavierspieler, ein begabter Maler wie sein Pate...
nur in Büros wollte er sich nicht sperren lassen. Und nach einem
Segelausflug mit Papa und Onkel Richard - der im Gegensatz zu Tom ein
guter Segler war - beharrte er auch auf seinen schnell gefassten Berufswunsch.
Er wollte Seemann werden. Zu Almas großem Erstaunen hielt ihn Thomas
nicht davon ab, sondern unterstützte dieses irre Unterfangen auch
noch. Er wurde Kapitän zur See und heiratete seine Jugendfreundin,
die er innig liebte, obwohl die Weiber ihm zu Füßen lagen.
Doch er war nur einer treu und zeugte bei jedem Landgang einen neuen kleinen
Brook. Sein umsichtiger Vater Thomas hatte dafür gesorgt, dass keiner
seine Söhne eingezogen wurde und sich früh genug mit ihnen davongemacht,
so entkam er auch dem Krieg zur See.
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Der alte Tom Brook, der nach einem üblen Sturz aus etlichen Metern
Höhe in Jahre '39 ein schweres Rückenleiden davonbehalten hatte,
nachdem er seinen Urenkel Maik vor einem tödlichen Unfall von einem
Schuppendach das Leben gerettet hatte, fiel es im Alter mit den Jahren
immer schwerer zu gehen, und er wollte gern noch einmal nach Deutschland
reisen. Mittlerweile schon ein Greis, wurde dies auch Zeit. Man wurde
nicht jünger.
Er hatte viel erlebt, auch Dinge, die er nie für möglich gehalten
hätte.
Zwei Kriege hatte er mitgemacht. Gesehen, wie Frauen in sogenannten Miniröcken
herumliefen. Fast nackt. Er hatte zwei Männer gesehen, die sich auf
offener Straße küssten und mitbekommen, dass es 1969 nach der
brutalen Razzia am "Stonewall" zur sogenannten "gay liberation"
gekommen war. Ungeheuerlich - und er hatte sich innerlich sehr darüber
gefreut. Sascha wäre dies ein Fest gewesen.Er hatte gesehen, dass
sein Jüngster den America's Cup ersegelte, seine Enkelin Wiebke mit
einer sehr erfolgreichen Ausstellung der Kunstsammlung der Familie Brook
Furore machte. Vor allen Dingen die erotischen Nacktbilder des jungen
Thomas waren berühmt.
Wiebke, die mit einer sehr exzentrischen Dichterin in wilder Ehe lebte,
fand, dass ihr Opa sicher noch ganz andere unanständige Geheimnisse
hütete. Sie fand die Bilder schwer homoerotisch.
Und nun wollte er heim, noch einmal an die Nordsee...
Alma jedoch, fast taub und eher behäbig geworden, hatte keine Lust
dazu, doch ihm kam das sehr gelegen.
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Maik flog mit ihm heim und führte den alten Mann durch Bremen, welches
Thomas kaum wiedererkannte. Das Stammhaus war wieder in Familienbesitz,
doch eigentlich war das nicht der Ort an den er wollte. Seinem Urenkel
Maik war nicht wirklich verständlich, was Opa in einem Kaff wie dieses
sonderbare Bensersiel wollte, doch er erfüllte ihm diesen Wunsch
und brachte ihn in dieses kleine Häuschen, das er gemietet hatte.
Dabei hatten sie nie in dieser Gegend gewohnt, wie Oma zu erzählen
wußte.
Widerstrebend ließ er ihn allein, nachdem ihm der noch rüstige
Urgroßvater versichert hatte, dass er gut zurecht kam und nachdem
langen Flug einfach nur schlafen wollte.
Als er dann am nächsten Tag gegen Mittag zu dem kleinen Häuschen
kam, welches mit einem dick gedecktem Reetdach sehr.. german aussah, fand
er seinen Großvater anscheinend schlafend vor dem offenen Kamin,
in dem noch immer ein Feuer glimmte. Maik war schleierhaft, wer wohl der
nächtliche Besucher gewesen war, denn ganz sicher war sein müder
Urgroßvater nicht mehr in der Lage gewesen, aus eigener Kraft ein
Feuer zu entzünden. Und einen Gast mußte er gehabt haben, denn
es standen zwei weiße Steinguttassen auf dem Boden, und es war noch
etwas Tee in der bauchigen Kanne.
Und als er sich leise neben ihn kniete, um den alten Mann zu wecken,
für dessen Knochen das Schlafen auf dem Vorleger sicher unangenehm
war - wenn er auch dick zugedeckt war - stellte er fest, dass Thomas wohl
im Schlaf gestorben sein mußte.
Betroffen hob er ihn auf und legte ihn auf das niedrige Sofa... und befand
dann, dass dessen letzter Traum ein schöner gewesen sein mußte,
denn sein Urgroßvater sah sehr friedlich und entspannt aus, lächelte
fast.
Als er auf den Arzt wartete, der den Totenschein ausstellen mußte,
fiel ihm irritiert auf, dass der Ehering seines Uropas auf dem niedrigen
Couchtisch lag. Nachdenklich drehte er ihn in der Hand und betrachtete
die Inschrift - und sah dann befremdet auf Toms Hand, die leicht in sein
Hemd gerutscht war und ein etwas seltsam geformtes Kreuz auf seiner Brust
umfasste, welches Maik noch nie zuvor in seinem Besitz gesehen hatte -
und an deren Ringfinger nun ein anderer goldener Ring steckte. Erst wollte
er ihn abziehen, doch dann kam ihm das nicht richtig vor. Maik beschloß,
es einfach hinzunehmen und keine Fragen zu stellen, die eh' niemand mehr
beantworten würde. Stumm schob er den Ehering in Uropa Tom's Brusttasche.
Als er nach dem Telefon griff, um seinen Vater Lars zu benachrichtigen,
der die traurige Aufgabe haben würde, die Familie zu informieren,
schien es Maik einen Moment so, als hätte er aus den Augenwinkeln
eine kleine graugetigerte Katze durchs Zimmer huschen sehen...
Aber sicher hatte er sich das nur eingebildet.
Dieser Text ist nicht von mir, sondern von "Tom" selbst. Eine
alternative Wirklichkeit.
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