AZ 20050331.Bender


Das Exim lag in keiner guten Gegend. Es blickte durch ein mit verschnörkelten Buchstaben beklebtes Schaufenster hinaus auf eine Straße, deren Asphaltdecke rissig war, so dass der Kopfsteinpflasterbelag der vorvergangenen Jahrhunderts sichtbar wurde. Damals war der Vorort Dorf gewesen und die Bewohner Arbeiter in den aufstrebenden Betrieben der nahen Stadt.
Jetzt war die Stadt über das Dörfchen mit seinen intakten Sozialstrukturen hinweggewuchert, der Ausländeranteil noch höher als die Arbeitslosenquote, die schon über dem Bundesdurchschnitt lag, und wer konnte zog fort, in die grundsanierte Altstadt (wenn er hipp war) oder in eines der sauberen, sterilen Neubauviertel (wenn es um Familien ging).
Zwischen den nikotintrüben Scheiben der beiden Kneipen, die den Laden einrahmten, wirkte die Dekoration aus bunten Saris, Specksteindosen, Silberschmuck und zierlichen Glasfläschchen wie eine Eruption orientalischer Pracht. Hier traten zum Klang einiger Messingglocken Menschen ein, die sich an Tand erfreuen konnten, während rechts und links in Schwaden aus Alkoholdunst, Tabakqualm und Selbstmitleid die Ewiggleichen mit denen, die immer da waren, Korn oder Bier tranken und ein Leben beklagten, in dem es keine Probleme mit Schnaps nur ohne gab.

An den Händen des Jungen, der auf die Glastür zutrat, schimmerten silbern solche Ringe, wie sie auch dort in der Auslage zu sehen waren. Vielleicht waren die seinen ein wenig filigraner, wirken ein wenig mehr "handgemacht", aber groß war der Unterschied nicht.
An jedem Finger saß einer der Ringe, von dem, der am Mittelfinger der linken Hand saß gingen Kettchen ab, die zu einem Armband führten, das unter dem Ärmel einer schwarzen Jacke verborgen war.
Außer dem Silber an Fingern, Gelenken, Ohren und Kehle war alles, was er trug schwarz. Schuhe, schmalgeschnittene Hose, Jacke, sogar das Halstuch.
Die Haare waren an den Spitzen schwarz, sonst von einem warmen Rotbraun, das in der Kombination besonders auffiel. Die Frisur, die aus diesem Haar gebildet wurde, hätten die meisten Mütter nicht als solche bezeichnet. Wirr und ein wenig stachelig standen die spannenlangen Strähnen vom Scheitel ab, die Schläfen und der Hinterkopf waren ausrasiert, und vom Hinterkopf hing ein langer Zopf auf den Rücken.
Niemanden würde es wundern zu sehen, dass in dem blassen Gesicht die Augen dunkel umrandet waren. Am Kajal war nicht gespart worden. So wirkten der Blick, der die eigenen Gestalt für einen Moment in der spiegelnden Tür musterte, melancholisch.
Der nächste Blick, der hoch zu den klingelnden Glöckchen ging, wirkte jedoch hell und wach, die blaugrauen Augen nahmen wahr, dass das Messing fein ziseliert war, dass kurze Stäbe von der sich öffnenden Tür bewegt worden waren, und das Geräusch hervorgerufen hatten.
Die Nasenflügel der schmalen Nase, die an der Spitze eine Winzigkeit nach oben zeigte, blähten sich kurz, als er den Geruch wahrnahm, der ihm entgegenschlug. Patschuli, Amber, Moschus, Jasmin ... Alles mischte sich, süß und schwer zugleich.

Dann brach die Sonne hervor.

Lichtstrahlen bahnten sich ihren Weg, stießen dolchgleich in das Innere des Ladens, rissen die verborgene Schätze aus dem Dunkel des Nichtbeachtens. Wellen aus Energie trafen auf Partikel von Dreck und verwandelten sie in lichte Juwelen, die durch den Äther tanzten. Eine Transformation, die kein Einstein berechnen und nur ein Poet sehen konnte.

Kurz blinzelte der junge Besucher und als er die Augen wieder aufschlug, war vor ihm ein Mädchen.

Sie trug Schwarz wie er, eine Hose mit aufgesetzten Taschen, die in die Stiefel gestopft war. Zwischen Hosenbund und Saum des Achselshirts war ein Streifen frei, man sah ihren flachen Bauch, zarte, weiche Kuhlen neben den Hüftknochen, gerade soviel, das man träumen konnte, so wenig, dass es eine Herausforderung blieb, sich mehr auszumalen. Über die Schulter trug sie eine schwarze Stofftasche, auf deren Klappe ein Batch von In Extremo aufgenäht war. Kein Schmuck.
Aber all das wurde nebensächlich, wenn man in ihr Gesicht sah.

Das herzförmige Gesicht wurde von einer Masse kupferroten Haares umrahmt, die lockig die Schultern umspielte. Die Nase war klein, die Lippen hell und voll aber das bemerkenswerteste waren die Augen. Sie waren tiefdunkel - und man versuchte vergeblich, sich darin zu spiegeln. Alles hatten diese Augen schon gesehen, tiefe Bronnen des Schmerzes, der mit dem Wissen kam. Kritiker einer übersättigten Zeit mochten argumentieren, dass diese Düsternis ihren Charakter mit Tiefe ausstattete, der ihm sonst gefehlt hätte. Aber solche Stimmen wussten auch keine Antwort darauf, warum ein siebzehnjähriges Kind nicht lachte.

So begegneten sich ihre Augen das erste Mal über den Abgrund des Misstrauens hinweg, Sturmhimmelblau und Nachtdunkel. Das Klingeln der Türglocken wurde von den Silberglöckchen aufgenommen, die an der Fußkette hingen, die sie in Händen hielt.

"Hi ...", murmelte er.
"Hi...", antwortete sie.
Ihre Stimme war leise und hell, seine erstaunlich weich und dunkel.
"Schöne Kette...", erklärte er dann, aber er sah in ihre Augen und meinte nicht den Schmuck.
"Ja...ja. Ich wollte immer schon so etwas haben. Hab's im Schaufenster gesehen."

Wenn sie sich bewegte, schimmerten einzelne Haare wie brennendes Metall um ihr Gesicht herum. Mit einer kleinen, schmalen Hand wischte sie feine Strähnchen aus ihrer Stirn.

"Ich wollte mal nach nem Shirt gucken", meinte er dann in dem verkrampften Bemühen, das Gespräch nicht abreißen zu lassen, das Mädchen für immer in diesem Moment festzuhalten.

Ihr blieb nichts übrig, als ihn anzulächeln. Was hätte sie ihm dazu sagen sollen? Ich würde dich lieber nackt sehen ... Das mochte er sich erträumen, aber die Wirklichkeit war kein feuchter Jungentraum.

"Jemand mit deinem Geschmack könnte mich beraten dabei", grinste er schließlich, bevor sich die Welle des Schicksals brach und diesen Moment aus der Tür spülte.

Nun lachte sie. "Und du nimmst, was ich dir aussuche?", forderte sie ihn heraus.

Er war achtzehn. Welche Antwort konnte er geben außer: "Klar..."

So suchten sie sich durch die Stapel an Kleidung. Sie benahmen sich als wären sie allein auf der Welt, auch wenn schwarze Augen auf sie gerichtet waren.
Lautlos war die Wächterin des Ladens, bewegte sich, obwohl ihr pflaumenfarbener Sari eine gehörige Fülle umspannte, behände in ihrem kleinen Reich zwischen Warenlager und Registrierkasse.

Vieles war schwarz, aber schließlich gab sie ihm ein buntbesticktes Hemd, dessen beigefarbenen Font man kaum noch erkannte zwischen Stickereien, Perlen und kleinen Spiegeln.
"DAS soll ich anziehen?", fragte er blinzelnd.
"Klar...."

Sturmaugen waren es, die zu ihr hinblitzen, bevor er die Lederjacke auf den Boden fallen ließ und das zerrissene T-Shirt (natürlich auch schwarz) noch oben drauf. Von der Hüfte (und die Hose saß tief) aufwärts nackt stand er nun vor ihr.
Schlank war er, fast mager, aber über die Schultern, die nicht schmal waren, und die Arme zogen sich feste Muskeln und der Bauch war sehenswert.

Sie wich unerwartet ein kleines Stück zurück - bevor sie es merkte, hatte sie es schon getan.

Ob er es merkte, war nicht zu erkennen, denn er streifte das Shirt über, verschwand zwischen den weichen Falten, bevor der gefranste Saum um seine Hüften fiel.

Wieder sah er sie an. "Und?" Er stockte. "Wie heißt du eigentlich?"
"Re..Rebecca, aber meine Freund sagen Kid zu mir." Sie reckte das Kinn ein klein wenig vor. Direkt neben dem Kinn war eine kleine Narbe. Sicher sah man sie meist nicht, sie war unauffällig, aber jetzt fiel sie ihm auf und rundete sein Bild von ihr ab.
"Und du?", fragte sie dann fest zurück.
Er sah an sich herunter, dann erst wieder zu ihr. "Gipsy..."
"Und richtig?"
"Gipsy reicht."

Sie stemmte die Hände in die Hüfte, versuchte sich zu spreize, breit und eindrucksvoll zu machen, aber sie blieb nur ein Mädchen in burschikoser Kleidung.
"Dann passt das Hemd ja!", schnappte sie.

"Dann kaufe ich es auch... Und die Kette da auch." Er deutete mit dem Kinn auf das Fußkettchen, dass sie immer noch umklammert hielt.

"Warum?" Oh, wie misstrauisch konnte sie ihn ansehen.

"Ich schenke es dir, und du gehst mit mir Eis essen." Er beugte sich vor, als er das Shirt wieder auszog. Sein Rückgrat trat hervor, kleine knochige Erhebungen wie das Skelett eines Urzeitdrachen, der sich gleich aufrichten wollte, um seine Beute zu verschlingen.

"Was ist das?", fragte sie verwundert, berührte ihn, während er sich noch vor ihr verbeugtet, gefesselt in seinem Zigeunerhemd.
Narbengewebe breitete sich beidseitig zwischen Rückgrat und Schulterblatt aus. "Was war da?"

"Flügel."

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