AZ 20050331. Bender, BS06/31


4. März

Ich bin aufgeregt. Meine Hände sind feucht und in meinem Magen scheint ein Stein zu liegen.
Immer wieder drehen sich die Gedanken in meinem Kopf: was ist, wenn ... Und was ist, wenn nicht ...?
Heute könnte es passieren, dass wir die Früchte all unserer Arbeit der letzten zwei Jahre ernten.
Heute ... Wenn wir Gnade vor den Augen des Agenten von El-Rec finden (Daniel Stiller heißt er), dann sind wir einen großen Schritt weiter. El-Rec hat einige große Independ-Bands unter Vertrag, von den 10 bestverkauften Titeln der Alternativen Charts im vergangenen Jahr haben sie drei produziert.

Es ist erst 18 Uhr, als ich am Bunker ankomme, aber trotzdem ist Kid schon da. Sie sitzt auf einem der Tische, die an den Wänden stehen und keinen erkennbaren Zweck haben als den, dass man ab und an eine bestellte Pizza daran essen kann. Sonst sammelt sich unter ihnen Dreck und auf ihnen Müll.
Und jetzt sitzt halt Kid darauf. Sie hat die Beine angezogen und die Arme um die Knie gelegt. Sie trägt ein formloses Sweatshirt (vage kommt es mir bekannt vor. Vielleicht hat es mir mal gehört. Kid trägt ein paar von meinen Sachen auf.), das ihr viel zu groß ist. Sie hat es noch über die Beine gezogen.

In der Dunkelheit des Raumes, in den nur noch ein Rest Dämmerlicht durch die Oberlichter fällt, ist sie fast unsichtbar, verschmilzt sie fast mit der Dunkelheit, die sie umgibt. Nur ihr helles, schönes Gesicht und das leuchtende Haar sind sichtbar. Könnte ich es malen, würde ich ein Bild darauf machen, das weiße Gesicht und das Kupferhaar. So werde ich eines Tages ein Lied daraus machen.
Ich habe unendlich viele Lieder für Kid geschrieben und keines davon je für sie gesungen. Sie liegen in meinem Schreibtisch und warten darauf, dass sich etwas zwischen uns ändert.

Still setze ich mich neben sie, strecke die Beine aus, bis die Füße über den Rand des Tisches in den leeren Raum hineinragen. Unsere Schultern berühren sich und nach einem Moment lehnt sie sich an mich, legt ihren Kopf auf meine nackte Schulter.
Ich hoffe, dass sie sich nicht an den Sicherheitsnadeln verheddert, die den Ärmel meines Pullovers statt einer Naht halten.
"Schaffen wir es, Gipsy?"; fragt sie nach einer Weile.
"Denke schon, Mädchen. Die CD ist gut gewesen, das heute Abend ist vermutlich nur noch Formsache."
"Hast du ne Zigarette?"
Sie raucht selten. Aber jetzt weiß ich endgültig, dass sie nervös ist, so nervös wie ich vermutlich.

Die Kippe zwischen meinen Fingern ist aber ganz ruhig, als ich sie anzünde und dann zwischen ihre Lippen schiebe. Ihre Lippen sind hell, nur wenn sie Lippenstift trägt, fällt auf, wie fein geschwungen sie sind, oder wenn man sie genau ansieht. Diese Geste, oft vollführt, ist das intimste, was ich mir erlauben darf. Unsere Gesichter sind sich ganz nah, in einem Film würde jetzt romantische Musik gespielt, bevor der Held das Mädchen küsst. Aber hier hatte das Mädchen eine Zigarette im Mund und nur meine Augen dürfen sie streicheln.

"Ich will, dass es klappt!", meint sie plötzlich, richtet sich auf und gleitet vom Tisch - einen Moment bevor Marteen in den Raum kommt.
"Hi, Mädels!", grüßt er.

Daniel ist pünktlich. Er sieht nicht aus wie ein Mann, der im Berufsleben steht, mit dem langen, schwarzen Ledermantel, dem Undercut und dem kleinen Zöpfchen am Hinterkopf könnte er in jedem Club, in den ich gehe, an der Bar stehen. Würde er nicht bestimmt 100 kg wiegen, wäre er ein attraktiver Typ.
Er ist nicht unsympathisch, aber etwas an ihm stört mich. Vielleicht, dass er soviel mit Marteen spricht. Oder ein Satz wie: "Wenn ich ins Empire of Vampire gehe, dann bin ich erst mal ne halbe Stunde mit Begrüßung beschäftigt."
Wichtig. Er ist wichtig. Und das schlimme ist, er kommt sich auch so vor und zelebriert es.

Aber schließlich haben er und Marteen ihre Weihrauchkegel abgebrannt und wir können mit der Probe anfangen.
Es ist weniger eine Probe als ein Vorspiel der Titel von der Demo-CD.

Friedel war meine größte Sorge, aber er spielt perfekt, er legt den Klangteppich, über den Marteen und Kid ihre Töne aufmarschieren lassen. Sie ergänzen sich, bringen sich zum Strahlen, jede Note, jeder Einsatz sitzt.
Daniel sieht mich an, als hätte er mich noch gar nicht wahrgenommen, als würde er sich seit der Begrüßung fragen, was ich hier mache.
Ich lächle. Gipsy-Spezial, sagt Kid dazu.
Zum in die Fresse schlagen, meint Friedel.
Guck nicht so kalt, sagt mein Vater.
In diesem Moment ist es nicht Absicht, es ist weil ich konzentriert bin, dann hole ich aus meinem Inneren die Klänge, lasse sie frei. Ich weiß, dass ein starres Lächeln für den Moment auf meinem Gesicht steht, wenn die rechte Spannung da ist. Da steht eine Säule aus Luft auf meinem Zwerchfell, ich halte sie einen Moment, dann versetze ich sie in Schwingungen, öffne die Lippen und habe Daniel vergessen und alles andere auch.
Nur noch der Moment zählt.
Dieser eine Augenblick, wo der Ton in der Luft hängt bevor er verklingt. Bevor er unwiderruflich verschwunden ist, dahin, wenn er nicht auf ein offenes Ohr trifft. Und auf ein Herz, dass ihn bewahrt, diesen Ton, diesen Moment.

Die Euphorie trägt mich durch die Stücke. Jedes Intro erneuert den Zauber, ich singe, ich spiele, ich lasse die Flöte singen und am Ende, nachdem letzten Ton von Schattenkind, nachdem letzen Rufen der Geige stürze ich zurück in die Gegenwart wo mich Daniel jetzt ansieht.

Nicht mehr Marteen, nicht Kid und schon gar nicht Friedel.

"Ich denke..", meint er nach kurzem Räuspern. "Wir kommen ins Geschäft."

An den Anfang --- zurück --- weiter ----Das EndeHeim